Das Müll Chaos wächst, das Regelungs-Chaos auch

Ein Kommentar von Dr. Henning Wilts, Wuppertal Institut

 

Sowohl die Europäische Kommission als auch die Bundesregierung haben sich mit Blick auf den Markt für Rezyklate ehrgeizige Ziele gesetzt: Laut EU-Strategie für Kunststoffe in der Kreislaufwirtschaft soll sich das europäische Marktvolumen für wiederverwertete Kunststoffe bis 2030 vervierfachen, auch das Bundesumweltministerium kündigt in seinem „Fünf-Punkte-Plan für weniger Plastik und mehr Recycling“ an, die Nachfrage nach Kunststoff-Rezyklat deutlich steigern zu wollen. Den ehrgeizigen Plänen steht eine ernüchternde Realität entgegen: ein Flickenteppich verschiedener Regelungen mit sehr unterschiedlichen Signalen entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Wie die Zukunft der Kunststoffe in einer Kreislaufwirtschaft aussehen soll, dazu gibt es in der Europäischen Union keine einheitliche Linie.

Um Produktanbieter und Hersteller dazu zu bringen, Kunststoffe recyclingfähiger zu gestalten, setzen die EU-Mitgliedsstaaten zunehmend auf ökonomische Anreize. Einfach ausgedrückt: Wer beim Design auf die Recyclingfähigkeit achtet, soll weniger Lizenzgebühren, zum Beispiel für Verpackungen, an die Dualen Systeme zahlen. Entsprechende Regelungen gibt es bereits in Frankreich und Italien. In Deutschland verlangt Paragraph 21 im Verpackungsgesetz ähnliche Maßnahmen von allen Dualen Systemen.

Die Vielzahl unterschiedlicher Regelungen in den Staaten ist für die oft global agierenden Inverkehrbringer der Verpackungen jedoch kaum zu bewältigen. Häufig ist es für sie dann günstiger, schlicht höhere Lizenzgebühren zu zahlen. Allein in Deutschland gibt es unterschiedliche Bewertungssysteme, mit denen ein- und dieselbe Verpackung bezüglich ihrer Recyclingfähigkeit unterschiedlich bewertet werden kann.

Das Chaos setzt sich fort bei den Vorgaben zur Sammlung und Verwertung. In unterschiedlichen Ländern wird unterschiedlich getrennt, basierend auch auf unterschiedlichen Vorgaben zu Verwertungsquoten. Wo Pfandsysteme existieren, sind sie nicht länderübergreifend kompatibel und schaffen damit Anreize für alle möglichen Formen von Pfandbetrug.

Die Debatte um das sogenannte chemische Recycling von Kunststoffabfällen ist in Europa maximal konfus. Manche Länder wie Deutschland haben sich bisher relativ klar positioniert, solche Verfahren nicht auf Recyclingquoten für Verpackungen anzurechnen. In Nachbarländern wie den Niederlanden sieht die Diskussion ganz anders aus – mit entsprechenden Folgen für die Bewertung, was diesseits und jenseits der Grenze denn eine „recyclingfähige“ Verpackung ist.

Aber auch innerhalb Deutschlands werden zentrale Vorgaben wie die Gewerbeabfallverordnung zur Getrenntsammlung unter anderem von Kunststoffabfällen extrem unterschiedlich umgesetzt und überwacht – mit entsprechenden Folgen für die Erfassungsqualität, die von Bundesland zu Bundesland ganz anders ausfällt.

Die Liste uneinheitlicher und inkonsistenter Regeln ließe sich nahezu beliebig fortsetzen, beispielsweise mit Blick auf den erlaubten Einsatz von Kunststoffrezyklaten in unterschiedlichen Verpackungen, auf Kriterien für an den Konsumenten gerichtete Label für umweltfreundliche Verpackungen bis hin zu den Vorgaben für den Transport vorsortierter Kunststoffabfälle, der zwischen den EU-Mitgliedsländern, aber auch deutschen Bundesländern ganz unterschiedlich geregelt ist. Was im einen Land mit überschaubaren Umweltauflagen vom Sortierer zum Recycler gebracht werden darf, wird im nächsten Land als gefährlicher Abfall eingestuft und darf dann beispielsweise nur noch mit besonderen Fahrzeugen transportiert werden.

Viele dieser unterschiedlichen Regeln spiegeln die Unterschiedlichkeit abfallwirtschaftlicher Infrastrukturen, -kultureller Eigenheiten oder historisch gewachsener Rechtsphilosophien wider. Die Voraussetzungen für Kreislaufwirtschaft in den Niederlanden sind andere als in Bulgarien, ebenso im Ruhrgebiet im Vergleich beispielsweise zur Uckermark. Das muss natürlich auch in anpassbaren Regelwerken berücksichtigt werden können.

Betrachtet man den erlaubten Einsatz von Rezyklaten in sensiblen Einsatzbereichen, so ist nachvollziehbar, dass manche Länder ohne die notwendige technische Infrastruktur zur Überwachung solcher Regelungen häufig aus Vorsicht eher zurückhaltend und restriktiv sind – wohlwissend, welche Risiken hier für den Verbraucher entstehen könnten, wenn Grenzwerte zum Beispiel für Schadstoffe nicht eingehalten werden.

Umgekehrt muss aber stärker in den Fokus gelangen, wie massiv die dargestellten nationalen bis herunter zu kommunalen Regelungen die Entstehung eines europäischen Rezyklate-Markts behindern. Es mangelt nicht an Studien, die auf die massiven Kostenvorteile einer tatsächlichen Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe verweisen. Diese Vorteile werden in der Praxis jedoch nicht realisiert, unter anderem weil der Markt für Neuware so viel einheitlicher, standardisierter und damit effizienter organisiert ist als der Markt für Rezyklate.

Die möglichen Einsparungen, Kunststoffe aus einheimischen Abfällen, anstatt aus Erdöl herzustellen, werden aufgefressen durch ein Chaos bürokratischer Vorgaben. Der Ökonom würde hier von „Transaktionskosten“ sprechen. Selbst aus Überzeugung nachhaltig wirtschaftende Unternehmen bleiben am Ende beim jahrzehntelang optimierten Einsatz primärer Kunststoffe, nachdem sie begonnen haben, sich mit den Detailregelungen der europäischen Mitgliedsländer oder auch darüber hinaus am globalen Markt zu beschäftigen, wo wann welches Rezyklat eingesetzt werden darf.

Unklarheit und Kleinteiligkeit führen dann auch zu mangelndem Vertrauen der Unternehmen untereinander, was zu weiteren psychologischen und betriebswirtschaftlichen Hindernissen führt. Hinzu kommt ganz entscheidend der Faktor „Skalenerträge“: Je größer die Anlage, je größer der Markt, desto niedriger in der Regel auch die Durchschnittskosten. Der sehr kleinteilige – weil kleinteilig regulierte – Markt für Rezyklate konkurriert mit einigen der größten Unternehmen der Welt, die die Herstellung von Primärkunststoff perfektioniert haben – und nur deshalb auch am Markt überleben konnten.

Hier bedarf es aus der Perspektive der Kreislaufwirtschaft dringend einer politischen Abwägung: Wo überwiegen die Vorteile kleinteiliger und unterschiedlicher Regulierung, wo hätte eine gestärkte Kreislaufwirtschaft die größeren ökologischen, aber auch sozio-ökonomischen Vorteile? Wo ließen sich aber auch flexiblere Regelungsformen finden, die die Interessen beider Seiten in Einklang bringen?

Häufig genug wären es ja nur leicht machbare Harmonisierungen, die zum Beispiel eine grüne öffentliche Beschaffungspolitik befördern könnten. Braucht es wirklich nationale Farbvorgaben für Produkte wie Mülltonnen, die es dann ausländischen Herstellern erschweren, dafür entsprechende Rezyklate herzustellen? Mit dem Endergebnis, dass noch immer zu viele Tonnen aus Neukunststoff hergestellt werden?

Bei alledem wird oft verkannt, dass diese Diskussion unter enormen Zeitdruck steht: Noch hätte Europa die Chance, zum Vorreiter für die Kreislaufwirtschaft von Kunststoffen zu werden und diese nach eigenen Vorstellungen umzusetzen. Betrachtet man aber das Ausmaß der Investitionen beispielsweise in China, das bei wissenschaftlichen Publikationen oder Patentanmeldungen längst die globale Vorreiter-Rolle übernommen hat, so ist absehbar, dass solche Abwägungsprozesse in naher Zukunft nicht mehr in Brüssel oder Berlin vorgenommen werden, sondern in Beijng.

Von daher ist es dringend an der Zeit, die oben erwähnten ambitionierten Ziele in die Realität umzusetzen und für den dafür notwendigen Transformationsprozess die geeigneten Rahmenbedingungen zu schaffen.

Das gegenwärtige Chaos mag kurzfristig denen nutzen, die in der linearen Wirtschaft aktuell noch gutes Geld verdienen. Mittelfristig ist die Frage, ob das Geld mit der Kreislaufwirtschaft in Europa oder anderswo verdient werden soll. Genau wie die Frage, ob wir beispielsweise Umweltvorgaben für den Rezyklatemarkt noch selber mitbestimmen wollen oder wir hier analog zum Ölmarkt abhängig werden von anderen Weltregionen. Die Zeit drängt!.