„Keine Daten, kein Markt“

„Wenn das Ziel darin besteht, neue Kunststoffe durch recycelte Kunststoffe zu ersetzen, sollten die bereitgestellten Informationen und ihre Genauigkeit für beide Materialtypen gleich sein“, findet die Normierungs-Expertin Dr. Madina Shamsuyeva. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunststoff- und Kreislauftechnik der Leibnitz Universität Hannover. Die POLYPROBLEM-Redaktion sprach mit ihr über die Bedeutung verbesserter Qualitätsstandards und darüber, wie fehlende Standards die Verbreitung von Kunststoff-Rezyklaten behindern

 

Frau Dr. Shamsuyeva, lassen Sie uns mit einer Frage beginnen, die auf den ersten Blick banal erscheint: Gibt es überhaupt eine klare Definition des Begriffs Rezyklat?

Der Begriff Rezyklat wird seit 1999 in verschiedenen anwendungsspezifischen DIN- und EN-Normen verwendet. Je nach Anwendungsbereich wird er entweder für die Beschreibung von Materialien aus gebrauchten Kunststoffprodukten, die gereinigt und zerkleinert wurden (DIN EN 1566) oder für die Beschreibung von verwertbaren Kunststoffmaterialien, die durch Recycling von Kunststoffabfällen erzeugt wurden (DIN EN ISO 472), verwendet.

Auf den ersten Blick sieht es einfach aus. Doch nicht jedes gereinigte und zerkleinerte Material ist für die Wiederaufbereitung als Sekundärrohstoff geeignet. Darüber hinaus sagt der Begriff Rezyklat nichts über die Herkunft des Materials aus. Für die Zusammensetzung und den Recyclingaufwand ist es aber ein großer Unterschied, ob es sich um Abfall nach Gebrauch (post-consumer) oder industrielle Produktionsreste beziehungsweise Abfall vor Gebrauch (post-production oder pre-consumer) handelt. Zudem wird nach den aktuellen Definitionen auch ein Kunststoffprodukt, das nur einen Anteil an recyceltem Material enthält, als Rezyklat bezeichnet. Es fehlt also sogar eine klare Definition bezüglich des Mindestanteils an recyceltem Material.

Gleichzeitig stehen derzeit verschiedene Recyclingverfahren zur Verfügung. Im Hinblick auf die dynamische Entwicklung der Kreislaufwirtschaft, wird diese Zahl noch zunehmen. Die bisher bekanntesten Verfahren sind das mechanische Recycling und das chemische Recycling. Beim mechanischen Recycling entsteht ein thermoplastisches Material, welches direkt wiederaufbereitet werden kann. Die aktuelle Definition passt für dieses Verfahren. Beim chemischen Recycling fallen dagegen Monomere oder andere Chemikalien in gasförmiger, flüssiger oder fester Form an. Obwohl die Produkte beider Verfahren unterschiedlich sind, wird in beiden Fällen von Rezyklaten gesprochen. Es ist also offensichtlich, dass die Definition des Begriffs „Rezyklat“ aktualisiert und konkretisiert werden muss.

Der Bedarf an wiederverwertbaren Materialien wird in den kommenden Jahren dramatisch ansteigen, teils aufgrund staatlicher Vorschriften, teils aufgrund einer veränderten Verbrauchernachfrage. Welche Rolle spielen Qualitätsstandards und -normen bei dieser Entwicklung?

Qualitätsstandards definieren technische Informationen, die der Recycler seinen Abnehmern für ein bestimmtes Produkt zur Verfügung stellen sollte. Standards tragen also dazu bei, eine gleichbleibende, reproduzierbare Qualität zu gewährleisten. Das ist der wichtigste Faktor für die Verarbeitung von Rezyklaten. Verbindliche Qualitätsstandards könnten also dazu beitragen, die inländische und globale Kommerzialisierung der Kunststoff-Rezyklate zu vereinfachen und zu fördern. Anders ausgedrückt: Keine Daten, kein Markt. Und schließlich fördern Qualitätsstandards die Kundenakzeptanz. Dies ist insbesondere in den Bereichen der Fall, in denen die Kunden einen direkten Kontakt mit Produkten aus Rezyklaten haben, wie beispielsweise bei Kosmetika oder in Textilien.

Die Hersteller von Kunststoffprodukten betonen immer wieder, dass sie gerne mehr Rezyklate verwenden würden, wenn es verlässliche und verbindliche Qualitätsstandards für das Material gäbe. Sie wünschen sich mehr Sicherheit, die Anforderungen ihrer Kunden auch mit Recyclingmaterial tatsächlich erfüllen zu können. Ist dieser Einwand berechtigt?

Die Einführung verlässlicher Qualitätsstandards würde den Aufbau einer Wertschöpfungskette für Rezyklate sicherlich fördern, aber ihr Fehlen ist nicht der einzige Grund für die teils noch zögerliche Wiederverwertung. Ein Beispiel: Seit 2008 gibt es die Norm für die Charakterisierung von Polystyrol (DIN EN 15342:2007). Das Recyclingverfahren für dieses Material liefert mittlerweile hochwertige Rezyklate. Allerdings ist das Recycling von Polystyrol vergleichsweise teurer als von Polyethylen oder Polypropylen. Deshalb wurde es bisher nur in sehr geringen Mengen wiederverwertet. Daran wird deutlich: Wenn sich die Herstellung und der Einsatz von Rezyklaten nicht rechnet, helfen auch Normen und Standards nicht.

Warum reichen die von den Recyclingunternehmen in den technischen Datenblättern gemachten Angaben nicht aus, um die Qualität des angebotenen Rezyklats zu beurteilen?

Im Vergleich zu den technischen Datenblättern für Neuware sind die Menge und die Genauigkeit der Daten in den technischen Datenblättern für Rezyklate deutlich geringer. Je nach Polymertyp und Recycler fordern die technischen Datenblätter für Rezyklate manchmal lediglich vier Eigenschaften: Dichte, Schmelzfließindex, Schmelzpunkt und Restfeuchte. Ein technisches Datenblatt für einen Neukunststoff jedoch enthält detaillierte Informationen über mechanische, thermische, rheologische und weitere anwendungsspezifische Kennwerte, wie zum Beispiel elektrische Eigenschaften.

Wenn das Ziel darin besteht, neue Kunststoffe durch recycelte Kunststoffe zu ersetzen, sollten die bereitgestellten Informationen und ihre Genauigkeit für beide Materialtypen gleich sein.

Es gibt bereits eine Reihe von DIN- und ISO-Normen. Mit welchen Fragen beschäftigen sich diese Normen hauptsächlich und was fehlt Ihrer Meinung nach am meisten?

Die bestehenden Recycling-Standards, die größtenteils Anfang der 2000er Jahre entwickelt wurden, stellen die allerersten Schritte der Kunststoffindustrie in Richtung Kreislaufwirtschaft dar. Man kann diese Normen in vier Gruppen einzuteilen: Charakterisierung bestimmter Polymere (PET, PE, PP, PS usw.), Terminologie und Kennzeichnung, Recycling bestimmter Kunststoffprodukte (PVC-Fenster, PET-Flaschen usw.) sowie Probenahme und Prüfung.

Die ersten beiden Gruppen sind die wichtigsten, da sie von verschiedenen Akteuren der Wertschöpfungskette verwendet werden und derzeit unabhängig vom früheren oder zukünftigen Anwendungsbereich des Rezyklats sind. Die Struktur der polymerspezifischen Standards legt erforderliche und optionale Daten für die Charakterisierung der gegebenen Rezyklate fest.

Aus wissenschaftlicher Sicht müssen einige der erforderlichen Daten durch entsprechende Messmethoden ergänzt werden. Beispielsweise ist die Farbe und Form der Rezyklate ein erforderliches Datenmaterial, welches genauer als nur durch visuelle Prüfung definiert werden sollte. Solche Normen werden derzeit überprüft und angepasst. So liegt zum Beispiel die überarbeitete Version der Norm für PE bereits als Entwurf vor. Im Vergleich zur Vorherigen, sind in dieser neuen Version die Angaben zum Vorhandensein von PP und Fremdpolymeren als Pflichtdaten festgelegt. Das ist ein wichtiger Fortschritt. Auch die übrigen, bestehenden Normen müssen überprüft und aktualisiert werden.26

Sehen Sie derzeit vielversprechende Ansätze, um aussagekräftigere Qualitätsstandards zu erreichen? Wenn ja, welche? Und wer arbeitet daran?

Zahlreiche Gruppen arbeiten derzeit an der Entwicklung neuer und der Überarbeitung bestehender -Normen. So zum Beispiel das Deutsche Institut für Normung mit der DIN SPEC 91446 und der DIN-Normenausschuss „Recycling von Kunststoffen in der Kreislaufwirtschaft“. Neben dem Deutschen Institut für Normung erarbeiten aber auch verschiedene Verbände Empfehlungen oder Richtlinien für den Umgang und die Klassifizierung von Kunststoffrezyklaten. Da sich dieser Bereich sehr dynamisch entwickelt, wird es voraussichtlich in naher Zukunft eine Reihe verschiedener Dokumente zu diesem Thema geben.

Die richtigen Standards und Normen scheinen eine wesentliche Voraussetzung zu sein, um den Markt für recycelte Kunststoffe und damit die Kreislaufwirtschaft in Schwung zu bringen. Wer sollte Ihrer Meinung nach hier die treibende Rolle sein: die Recycler, die Hersteller, die Anwender oder die Politik?

Ab einem bestimmten Punkt ist dies natürlich Team-arbeit. Allerdings: Nur Hersteller können technische Informationen und Qualitätsanforderungen an Rezyklate festlegen, die für ihre effektive und nachhaltige Verarbeitbarkeit und Verwendung in bestimmten Anwendungen bereitgestellt werden sollten.