Ausgleich braucht Gerechtigkeit

Der POLYPROBLEM-Report Kauf Dich frei entstand in Zusammenarbeit mit Yunus Environment Hub (YEH). Dessen Co-Gründer und Namensgeber ist Professor Muhammad Yunus, der 2006 für seinen Kampf gegen soziale und ökologische Ungerechtigkeit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. YEH entwickelt und fördert Social-Business-Unternehmen, um eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft voranzutreiben und arbeitet zudem als Berater mit einer Vielzahl an Akteuren zur Stärkung von Nachhaltigkeit.

Im Vorwort lenkt Prof. Muhammad Yunus den Fokus auf die soziale Dimension unseres Plastikkonsums, auf Gerechtigkeitsfragen und Menschenrechte im Globalen Süden.

Die Argumente für die Kohlenstoff-Neutralität sind belegt. Es gibt Debatten über die Strategie, das Tempo und die Zuweisung des relativen Gewichts der Verantwortung, aber nicht über die absolute Notwendigkeit dafür.

Der Kerngedanke dieses Konzepts besteht darin, dass Unternehmen, Staaten und Individuen ihren in der Produktion und Anwendung entstehenden Kohlenstoff-Fußabdruck durch CO₂-mindernde Maßnahmen an anderer Stelle ausgleichen müssen. Da stellt sich unweigerlich die Frage, wie es mit der Kunststoff-Neutralität aussieht. Sollten Unternehmen ihren Plastik-Fußabdruck nicht genauso ausgleichen wie ihren Kohlenstoff-Fußabdruck?

Das müssen sie, denn Plastikabfall ist nach wie vor eine der größten ungelösten existenziellen Bedrohungen für unseren Planeten. Kunststoff ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil unseres Lebens geworden, sei es in Form von Produkten oder deren Verpackung. Die Bedrohung geht von seiner unzureichenden Entsorgung aus. Die Abfälle breiten sich schnell aus und erobern den gesamten Planeten, einschließlich des tiefen Grundes unserer Ozeane.

Die Weltgemeinschaft schenkte diesem Problem über Jahrzehnte nicht genügend Aufmerksamkeit. Mit der Verabschiedung der UNEA-Resolution im März 2022 hat die internationale Staatengemeinschaft nun endlich den Grundstein für ein weltweites Abkommen gelegt, das die Vermeidung und verantwortungsvolle Verwertung von Plastikmüll auf der ganzen Welt sicherstellen soll. Die gemeinsame Verantwortung wird erstmals formal anerkannt.

Was angesichts der verheerenden ökologischen Folgen unseres Konsums jedoch oft übersehen wird: Das Plastikproblem ist auch ein Gerechtigkeitsproblem. Während der Globale Norden mit seinen weltweit agierenden Unternehmen den größten Teil der Wertschöpfung beansprucht, häufen die Länder des Globalen Südens Berge von Plastikmüll an. Die meisten dieser Länder haben keine flächendeckenden Abfallwirtschaftssysteme. Die Armen dort werden in eine neue Rolle als Sammler von Plastikabfällen gedrängt. In Ländern wie Kenia, Indien oder Brasilien arbeiten informelle Müllsammler an vorderster Front, um Plastikflaschen und anderen Plastikmüll zu sammeln, und riskieren dabei ihre Gesundheit und sogar ihr Leben.

In jüngster Zeit entstanden vereinzelte Initiativen mit dem Ziel, die Bedingungen der Plastikmüllsammler durch Kompensations- und Ausgleichsregelungen zu verbessern. So haben einige Unternehmen ihre Version der Plastikneutralität durch den Kauf von Plastikgutschriften, sogenannten Plastic Credits, eingeführt. Die Realität der globalen Plastikmüllkrise ist jedoch viel überwältigender, komplexer und geht weit über das hinaus, was diese noch schwachen Kompensationsbemühungen leisten können. Diese implizieren, dass Umweltschäden, die durch Kunststoffabfälle in einer Region verursacht werden, durch das Sammeln von Kunststoffabfällen in einer anderen Region ausgeglichen werden können. Das ist eine unrealistische Annahme.

Aus ökologischer Sicht sind die derzeitigen Ausgleichsangebote nur oberflächliche Lösungen. Sie gehen nicht an die eigentliche Ursache der Krise heran: die noch immer zu sorglose Verwendung von Plastik selbst. Neben dem Umweltaspekt, der weithin sichtbar ist, hat die Plastikmüllkrise auch eine soziale Dimension. Leider wird diese Dimension bei den Ideen und Projekten zur Kompensation meist vernachlässigt. So profitieren beispielsweise informelle Müllsammler, die den größten Teil der Sammelarbeit am unteren Ende der Abfallwertschöpfungskette leisten, kaum von den heute bekannten Ausgleichsmaßnahmen. Denn: Sie werden für die gesammelten Abfallmengen bezahlt, aber niemals unter Berücksichtigung der dafür aufgewendeten Arbeitszeit und der Arbeitsbedingungen.

Kompensationsprogramme für Kunststoffabfälle und alle daran beteiligten Parteien müssen diese soziale Dimension der Kunststoffabfallkrise und den Aspekt der Menschenwürde angemessener berücksichtigen. Um alle betroffenen Interessengruppen vollständig in Kompensations- oder Ausgleichsregelungen einzubeziehen, sollten Menschenrechtler in deren Gestaltung einbezogen werden. Wir müssen uns von der derzeitigen, mengenbezogenen Kompensationslogik lösen und unsere Neigung überwinden, schnelle und einfache Lösungen für komplexe globale Probleme zu suchen. Das Prinzip „eine Tonne rein – eine Tonne raus“ funktioniert nicht, weil das Plastikproblem eben nicht nur ein ökologisches und ökonomisches, sondern auch ein soziales Problem ist.

Jeder Weg zur Kunststoffneutralität, der seinen Erfolg in Gewichtstonnen misst, ignoriert wichtige Aspekte der Menschenrechte und der Menschenwürde. Wir müssen uns auf eine verstärkte internationale Zusammenarbeit konzentrieren, um den Zugang zu Technologien, den Aufbau von Kapazitäten und die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit zu erleichtern. In der Zwischenzeit bemühen wir uns nach Kräften, den Schaden von Plastikmüll einzudämmen, indem wir die Menschen auf seine Schädlichkeit aufmerksam machen, eine angemessene Politik betreiben, sowohl die Hersteller als auch die Anwender und Nutzer stärker in die Verantwortung nehmen und massive Maßnahmen zum Recycling ergreifen.

Erschienen im POLYPROBLEM-Themenreport Kauf Dich frei