Die Technik ist vorhanden, das Geschäftsmodell nicht
Der Mythos vom Recyclingweltmeister Deutschland ist mit Vorsicht zu genießen. Noch immer landet mehr als die Hälfte des von den Verbrauchern getrennt gesammelten und an den Sortieranlagen angelieferten Plastikabfalls in der Verbrennung. Und zugleich giert die Industrie nach hochwertigen Rezyklaten. Digitale Lösungen sollen aus diesem Dilemma heraushelfen.
„Hochwertige Rezyklate setzen saubere Stoffströme voraus. Und die erreichen wir nur mit einer verbesserten Sortierung von Haushaltsabfällen“, sagt Carsten Bertram. Er leitet den Bereich Packaging Sustainability bei Henkel. Der Konsumgüterkonzern engagiert sich neben vielen anderen großen Unternehmen in der Initiative HolyGrail 2.0. Hinter dem nicht gerade bescheiden gewählten Begriff verbirgt sich der Versuch, digitale Wasserzeichen in Verpackungen einzubringen. Diese enthalten zahlreiche Informationen – von der Materialzusammensetzung bis hin zu Anweisungen für die Sortierung und die Möglichkeiten für ein Recycling.
Wenn sich die Technologie in großem Maßstab durchsetzt – so die Vision –, soll das digitale Wasserzeichen an den Sortieranlagen ausgelesen werden und so über eine verbesserte Trennung für einen viel reineren Materialinput beim Recycling sorgen.
Das Konsortium hinter HolyGrail liest sich wie ein Who‘s who der internationalen Konsumgüterbranche: Danone, Mondelez, Procter & Gamble, Unilever, Nestlé, Pepsico … Kaum ein großer Name fehlt. Dazu Handelsriesen wie Aldi oder Amazon, große Verpackungsunternehmen und die chemische Industrie. Getrieben wird das Ganze von der European Brands Association (AIM) und der Alliance to End Plastic Waste.
Für Henkel-Manager Bertram ist diese breit angelegte Partnerschaft wichtig. „Der Erfolg von HolyGrail 2.0 hängt von einer breiten Akzeptanz in der Industrie ab. Skalierungsmöglichkeiten bestehen darin, mehr Verpackungshersteller, Marken und Recycler für die Teilnahme an der Initiative zu gewinnen“, unterstreicht er.
Die praktische Umsetzbarkeit und Wirksamkeit digitaler Wasserzeichen bei der Sortierung, Identifizierung und dem Recycling von Kunststoffverpackungen habe sich in Praxistests bereits erwiesen. Was hingegen noch unklar ist: Wird die Recyclingindustrie ihre Anlagen entsprechend umrüsten? Und wer stemmt die dafür notwendigen Investitionen?
Dr. Markus Helftewes, Chef beim Grünen Punkt, sieht in diesen Fragen eine weitaus größere Herausforderung als in der serienreifen Entwicklung der Technologie. Unumwunden räumt er ein, dass die Digitalisierung im Bereich der Abfallwirtschaft und des Recyclings hinter der in anderen Industrien herhinkt. „Aber die Frage ist, wer bereit ist, die Mehrkosten solcher Entwicklungen zu tragen“, sagt Helftewes und fordert neben einer besseren staatlichen Förderung vor allem langfristige Abnahmegarantien der Industrie.
„Zirkularität gibt es nicht zum Nulltarif“, stellt Helftewes fest. Anders ausgedrückt: Selbst, wenn die digitale Technologie im Recycling funktioniert, gibt es dafür noch lange kein funktionierendes Geschäftsmodell – zumindest nicht, solange Rezyklate teurer sind als Neuware.
Christian Schillers Geschäftsmodell heißt Transparenz. Der Gründer der rein digitalen Rezyklat-Handelsplattform cirplus gilt als Digitalpionier im Bereich der Kunststoff- Wirtschaft und setzt sich längst nicht nur für den Erfolg seines eigenen Start-ups ein. Er hält digitalen Fortschritt auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft für entscheidend. „Um Recyclingströme zu optimieren, brauchen wir Klarheit darüber, wo sich welcher Kunststoff in welcher Zusammensetzung, Qualität und Menge befindet – und das möglichst aktuell. Das kann kein menschliches Gehirn leisten. Gerade deshalb sind die Digitalisierung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz notwendige Voraussetzungen, um die Kreisläufe ernsthaft zu schließen“, sagt der Hamburger Start-up-Unternehmer.
Eine wesentliche Bedingung seien verbindliche Normen und Standards. „Um die Abfall- und Rezyklatströme in die digitale Welt zu übersetzen, muss eine gemeinsame Sprache gefunden werden, damit eindeutige und verständliche Datensätze generiert werden können und die Komplexität beherrschbar wird. Nur so kann die Wertschöpfungskette weltweit verlässliche Lieferketten aufbauen und eine erfolgreiche Kreislaufwirtschaft ermöglichen. Deshalb haben wir die DIN SPEC 91446 initiiert und finanziert, den weltweit ersten Standard für hochwertiges Kunststoffrecycling und Digitalisierung“, berichtet Schiller.
Die Optimierung von Stoffströmen beginnt also bei der Erfassung und Trennung von Abfall und endet bei der Beschaffung von hochwertigem, recyceltem Material. In diesem gesamten Spektrum verspricht der Einsatz digitaler Innovationen erhebliche Chancen. Zugleich stellt sich hier – wie auch in der Produktentwicklung und der Produktion – in wirtschaftlicher Hinsicht das klassische Henne-Ei-Problem. Sprich: Für die notwendige Skalierung fehlen vielfach noch die marktwirtschaftlichen Anreize.
Erschienen im POLYPROBLEM-Themenreport Der Circularity Code