Digitale Chancen für das Abfallmanagement in Schwellen- und Entwicklungsländern

In den Regionen der Welt, in denen ein etabliertes Abfallmanagement und somit auch eine regelmäßige Ansteuerung von Haushalten durch eine Müllabfuhr noch Fehlanzeige sind, hat der digitale Fortschritt eine besondere Bedeutung. Vielleicht ist er die einzige Chance für eine erweiterte Produzentenverantwortung.

So ergab die Analyse Digital Dividens in Plastic Recycling aus dem Jahr 2021, gefördert durch die britische Regierung, dass 60 Prozent der 63 untersuchten digitalen Anwendungen in Afrika, Südasien und Südostasien dem übergeordneten Zweck dienen, abfallproduzierende Haushalte und Unternehmen mit Abfallsammlern und Recyclern zusammenzubringen – in den meisten Fällen per App. (1)

Müllentsorgung per Knopfdruck

Das Angebot der Apps folgt vielerorts einem ähnlichen Prinzip wie beispielsweise bei der Lösung des nigerianischen Anbieters Pakam Technology: Abfallerzeuger erhalten per App eine Anleitung, um zunächst zu Hause oder im Unternehmen ihre recyclingfähigen Abfälle entlang vorgegebener Kategorien – zum Beispiel Kunststoff, Karton, Windeln, Aluminium, Multilayers, Glas, Öl – selbst zu sortieren und abzupacken, bevor sie danach per Knopfdruck die Abfallabholung durch einen Abfallsammler beauftragen und in der App die Abfallsorten und -mengen hinterlegen. (2)

Damit sich das Geschäft für die Sammler lohnt, gelten oftmals Mindestvorgaben für die abzuholende Abfallmenge. Veca, ein Unternehmen, das in Vietnam unter anderem Abfallsammler und Ankäufer mittels einer App verbindet, akzeptiert nur Abholaufträge von mindestens fünf Kilogramm. Für Abfallmengen darunter entsteht für die Abfallerzeuger eine Gebühr, die den Sammlern als Zuschlag für die Anfahrtskosten und -zeit dienen soll. (3) Bei Duitin, einer ähnlich konzipierten Plattform des indonesischen Entsorgungsunternehmens PT. Tjatra Yasa Indonesia, beträgt das Mindestgewicht drei Kilogramm. (4) Nach Versand der Abholanfrage werden die Abfallsammler über die App automatisch informiert, wobei bis zum Abholen schon mal ein bis zwei Tage vergehen. (5)

Bei Pakam in Nigeria erhalten die Abfallverkäufer eine digitale (6), bei Veca in Vietnam optional auch eine Barzahlung für ihre Abfälle, wobei die zu erzielenden Preise für die unterschiedlichen Abfallarten transparent in der App aufgeführt sind und regelmäßig gemäß der Marktentwicklungen aktualisiert werden. (7) Bei Duitin erfolgt die Zahlung in Form einer digitalen Währung. In Anlehnung an die Abfallsorte und -menge erhalten Abfallerzeuger sogenannte Duitin Coins oder Duition Points – eine Art Treuepunkte – gutgeschrieben. Mit den virtuellen Münzen oder Punkten können dann direkt über die App digitale Produkte erworben werden. (8)

Je simpler, desto zugänglicher

So praktisch Apps für diejenigen sein mögen, die über ein Smartphone und die notwendige Anwenderkompetenz verfügen, so notwendig erscheint es, die Informationen und Anwendungen besonders niedrigschwellig zu gestalten und damit den teilweise niedrigen sozialen Status und die Bildungsbenachteiligungen der Abfallarbeitenden im globalen Süden zu berücksichtigen.

Die App KOLEKT von Circular Action, einer Initiative der weltweit aktiven NGO BV-Rio wurde deshalb nicht nur für, sondern gemeinsam mit Abfallsammlern entwickelt. Sie funktioniert auch offline und kommt so gut wie ohne Text aus. (9) Andere App-Betreiber kooperieren mit Wohlfahrtseinrichtungen für die Bereitstellung von Smartphones im Rahmen lokaler Regierungsprogramme zur Arbeitsplatzbeschaffung, (10) und Plastic Bank bietet den Abfallsammlern in ihren Projekten Trainings zur Erweiterung digitaler Kompetenzen und einer effektiven Nutzung der verschiedenen Features an. (11)

Nachfrage bestimmt Angebot

Die Zunahme gesetzlicher Regelungen auf dem Weg zur Umsetzung der Erweiterten Produzentenverantwortung (EPR) macht digitale Anwendungen auch für Unternehmen interessant, die nach Lösungen für ihr Abfallmanagement suchen und nicht auf etablierte öffentliche Abfallwirtschaftssysteme zurückgreifen können. Die Anbieter reagieren. So können beispielsweise Unternehmenskunden von Duitin im Rahmen von Recyclingprogrammen ihre Mitarbeitenden motivieren, anhand eines Unternehmenscodes gemeinsam Punkte zu sammeln, und mittels einer Tracking-Funktion nachverfolgen, wie sich der Einfluss der eigenen Belegschaft auf die Umwelt entwickelt. (12)

Octopus, 2021 gegründet und ebenfalls aus Indonesien, erreicht nicht nur bereits 150.000 Nutzer und kooperiert mit 60.000 Abfallsammlern, sondern arbeitet auch schon mit über 20 Markenartiklern zusammen, die es bei der Umsetzung ihrer jährlichen Nachhaltigkeitsziele (13) durch Reporting-Angebote und Audits unterstützt.

Auch die Entwicklung passgenauer Pfandsysteme (Octopus Deposit Return System) bietet das Start-up an, beispielsweise in Kooperation mit Procter & Gamble für gebrauchte Produktverpackungen (14) oder Softex (Kimberly-Clark) (15) für benutzte Babywindeln. Dabei zahlen Konsumenten beim Kauf der Produkte ein Pfand, das ihnen zurückerstattet wird, wenn sie die Abholung der Wasserflaschen oder Babywindeln über die Octopus-App veranlassen. Ein Dashboard informiert die Marken über das Entsorgungsverhalten ihrer Kunden. (16)

Der Netzwerkgedanke

Eine zentrale Herausforderung beim Aufbau effizienter digitaler Strukturen ist die starke Fragmentierung des Abfall- und Recyclingsektors, der eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Interessengruppen umfasst: Angefangen bei Haushalten und Sammlern über Sammelstellen oder Aufkäufern bis hin zu den Aggregatoren, Recyclern und Exporteuren, deren Zusammenspiel oft unkoordiniert wirkt.

An dieser Stelle hat das Projekt Creating Value in Plastics Through Digital Technology der vom deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) initiierten PREVENT Waste Alliance in Indonesien angesetzt. „Unser Ziel war es, eine digital verknüpfte Recycling-Lieferkette für Kunststoffe aufzubauen, beginnend bei den abfallerzeugenden Haushalten bis hin zum globalen Markt“, erklärt Peter Nitschke, Globaler Direktor für Community Partnerschaften bei Plastic Bank und Kooperationspartner des vierteiligen Projektkonsortiums.

Für eine verbesserte Trennung direkt an der Quelle des Abfalls hat das German Institute of Development and Sustainability (IDOS) Bildungsmaßnahmen speziell für Haushalte entwickelt, um eine nachhaltige Verhaltensänderung zu fördern. Das indonesische Sozialunternehmen Waste4Change hat ein System zur Sammlung von getrennten Abfällen auf Haushaltsebene und für die örtlichen Waste Banks beigesteuert. „Die Mülltrennungsrate konnte von 20 Prozent auf 60 Prozent gesteigert werden, nur weil den Haushalten eine zweite Tonne zur Verfügung gestellt und diese separat abgeholt wurde“, erklärt Peter Nitschke stolz. Für die sichere und faire Bezahlung der Abfallsammler kam die Plastic Bank-App zum Einsatz, die auf einer Blockchain-Technologie basiert und damit auch die Rückverfolgbarkeit der gesammelten Kunststoffmengen, ihrer Herkunft und der getätigten Transaktionen und Prämien gewährleistet.

Unter Einführung eines neuen Qualitätsstandards für Rezyklate (DIN Spec 19446) wurden die zurückgewonnenen und recycelten Kunststoffabfälle schließlich über den digitalen Marktplatz von Cirplus auf dem Weltmarkt angeboten, wobei aufgrund der vollständigen Rückverfolgbarkeit den Käufern eine sozialverträgliche Rezyklat-Beschaffung garantiert werden kann. „Die Marken können das Rezyklat kaufen und wissen dann, dass beispielsweise Menge X an Kunststoffabfall in Gebiet Y gesammelt wurde und dass daran soundso viele Sammler beteiligt waren, die soundso viel dafür bezahlt bekommen haben und soundso viele Prämien erhalten haben“, illustriert Peter Nitschke. Im Ergebnis wurden 900 Haushalte, 22 Waste Banks und zwei Recycler zur Nutzung der digitalen Tools geschult und um die 10 Tonnen Plastik im Rahmen des Projektes gesammelt und vermarktet. (17)

Weitere vielversprechende Beispiele für integriertes Lieferkettenmanagement und Marktplatz-Anwendungen sind Recykal aus Indien (siehe Kasten) oder die App zum Handel mit recycelbaren Abfällen KOLEKT (siehe Interview mit Thierry Sanders).

Für Plastic Bank war die wichtigste Erkenntnis aus dem PREVENT-Projekt, dass vermehrt auf die bereits lokal existierenden informellen Strukturen aufgebaut werden muss: „Die Strukturen müssen einfach besser miteinander vernetzt werden, und darin sehen wir zukünftig auch verstärkt unsere Rolle. Für uns lohnt sich der Zeitaufwand nicht, für jeden neuen Standort eigene Waste Banks zu eröffnen. Stattdessen gehen wir jetzt verstärkt auf die lokalen Unternehmen direkt zu und bieten eine Zusammenarbeit an“, so Peter Nitschke.

Indiens One-Stop-Shop für den Abfall- und Recyclingsektor

Recykal, 2016 gegründet, beschreibt sich als Indiens erstes Waste-Commerce (18) -Unternehmen und bietet einen digitalen B2B-Marktplatz an, der landesweit Abfallerzeuger und -verarbeiter zusammenbringt. Das übergeordnete Ziel ist es, mehr Transparenz und Rückverfolgbarkeit im Abfallund Recyclingsektor sicherzustellen und gleichzeitig Unternehmen zu unterstützen, ihren in Indien gesetzlich geregelten Verpflichtungen im Rahmen der Erweiterten Produzentenverantwortung (EPR) und Nachhaltigkeitsberichtspflichten nachzukommen. (19)

Recykal bietet hierfür ein breites Angebot entlang der Kunststoff-Wertschöpfungskette an. Dazu zählen zum Beispiel ein Pfandsystem für Inverkehrbringer beziehungsweise Produktverkäufer mittels QR-Codes (20) oder smarte Lösungen für Sammelzentren, sogenannte Recykal Points. Deren digitale Ausstattung soll für mehr Planbarkeit sorgen und dadurch zur Schaffung von Jobs und damit zur Integration von Abfallsammlern beitragen. Die Grundlage hierfür bildet ein cloudbasiertes Software-as-a-Service-Modell, über das alle Stakeholder miteinander verbunden sind, um die Nachfrage und Verfügbarkeit von wiederverwertbaren Abfällen zu überwachen, Lagerbestände, Aufträge und Logistik zu steuern, Kunden und Partner in Datenbanken zu verwalten, Verkaufspreise zu vergleichen und digitale Zahlungen im Rahmen von Transaktionen zu tätigen und zu empfangen. (21)

Angesichts der steigenden Nachfrage nach wiederverwertbaren Kunststoffen und des damit verbundenen erhöhten Betrugsrisikos bei Online-Transaktionen soll der App-basierte Recykal-Marketplace Qualität und Echtzeit-Verfolgung von Bestellungen garantieren. Zu diesem Zweck listet Recykal nur seriöse Verkäufer und Käufer im Marktplatzsystem auf, die es selbst verifiziert hat. Registrierte Käufer können dann die geprüften Angebote einsehen, Preise vergleichen und sich für den Kauf einer bestimmten Materialmenge entscheiden. Recykal-Vertreter prüfen dann das Material vor Ort, bevor es verladen und abtransportiert wird. Recykal wirbt damit, dass es die volle Verantwortung für die Qualität des Materials übernimmt, bis es den Käufer erreicht. (22)

 

Erschienen im POLYPROBLEM-Themenreport Der Circularity Code

 

Fußnoten

(1) Wilson et al. (2021), S. 28

(2) Pakam (o. J.)

(3) Veca (o. J.)

(4) Duitin (o. J.) (3)

(5) Veca (o. J.)

(6) Pakam (o. J.)

(7) Veca (o. J.)

(8) Duitin (o. J.) (1)

(9) Circular Action (o. J.) (1)

(10) Shu (2022)

(11) Interviewaussage Peter Nitschke, Plastic Bank

(12) Duitin (o. J.) (2)

(13) In Indonesien ist von Extended Stakeholder Responsibility die Rede.

(14) Octopus (o. J.) (1)

(15) Kimberly Clark Softex (2021)

(16) Octopus (o. J.) (1)

(17) PREVENT Waste Alliance (2023) (1)

(18) World Economic Forum (2023)

(19) Erukala (2023)

(20) Recykal (o. J) (1)

(21) Recykal (o. J.) (5)

(22) Recykal (o. J.) (2)

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Bildquelle Beitragsbild POLYPROBLEM Website: Foto von Hermes Rivera auf Unsplash