Ökologische Gesamtbewertung und digitale Zwillinge

Funktion und Leistungsfähigkeit, Nachhaltigkeit, Preis: In diesem Dreiklang gewinnt die Nachhaltigkeit immer größere Bedeutung, wenn Kunststoff-Verarbeiter Produkte für die anwendende Industrie entwickeln. Das erfordert einen neuen, ganzheitlichen Blick auf Produkte, der ohne digitale Unterstützung kaum noch möglich ist.

Sowohl die steigenden regulatorischen Anforderungen als auch die gewachsene Sensibilität der Verbraucher hat dazu geführt, dass industrielle Kunden von ihren Lieferanten heute eine ökologische Gesamtbewertung – ein sogenanntes Life-Cycle Assessment (LCA) – der gelieferten Komponenten verlangen.

Dabei spielen so viele und so unterschiedliche Parameter eine Rolle, dass die Produktentwicklung ohne datengestützte Modellierungen kaum noch denkbar erscheint. Wie viel Treibhausgas setzt der Produktionsprozess frei? Wie wirkt sich das Gewicht unterschiedlicher Materialien auf die Nachhaltigkeit des Produkts aus? Und: Was geschieht nach der Gebrauchsphase? Ist das Bauteil rezyklier- oder gar wiederverwertbar? Nur einige von vielen Fragen, vor denen Produktentwickler stehen.

„Eine hohe Nachhaltigkeit eines Kunststoffprodukts ist nicht automatisch gleichzusetzen mit dessen Recyclingfähigkeit. Nachhaltigkeit entsteht durch die Summe vieler Parameter, und eine hohe Kreislauffähigkeit oder geringerer Ressourcenverbrauch durch Recycling ist nur ein Teilaspekt dabei“, verdeutlicht Hans-Josef Endres das Problem. Endres ist Professor an der Leibniz ­Universität Hannover und leitet dort das Institut für Kunststoff- und Kreislauftechnik. Er nennt Beispiele: „Mehrschichtige Kunststofffolien, sogenannte MultiLayer, gelten allgemein als umweltschädlich, weil sie kaum zu recyceln sind. Dagegen ist ein Monomaterial zwar besser recycelbar, muss dafür viel dicker sein, um ähnliche Barriereeigenschaften zu erreichen. Ich brauche also mehr Material und erzeuge damit auch ein höheres Gewicht. Was die nachhaltigere Alternative ist, muss für die jeweilige Anwendung im Einzelfall bewertet werden“, verdeutlicht der Wissenschaftler.

Polyamid verursache in der Herstellung einen etwa dreifach höheren CO₂-Ausstoß als Polypropylen. Dafür erlaubt es aber, die Wandstärke des daraus hergestellten Produkts um ein Mehrfaches zu reduzieren. Welche Eigenschaft fällt für die Umweltverträglichkeit am Ende stärker ins Gewicht?

Kurz: Auf die ökologische Gesamtbewertung kommt es an. Noch sei es nicht selbstverständlich, dass solche Fragen schon bei der Produktentwicklung gestellt werden.

„Bis vor Kurzem war es der Normalfall, dass Kunststoffprodukte unter funktionalen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten gestaltet wurden und eine andere Abteilung dann erst nachher die Nachhaltigkeitsbewertung des produzierten Bauteils gemacht hat“, weiß Endres. Das ändert sich gerade.

Dabei ist die Idee, bei der ökologischen Gesamtbewertung auf umfassende Datensätze zurückzugreifen, keineswegs neu. Ökobilanzdatenbanken als Grundlage für ein Life-Cycle-Assessment (LCA) gibt es seit den frühen 1980er-Jahren. Die heute umfangreichste und am meisten verwendete Datenbank dieser Art ist GaBi, eine Plattform des US-amerikanischen Unternehmens Sphera. Andere sind Ecoinvent aus der Schweiz oder die ursprünglich in Aachen entwickelte Datenbank cm.chemicals.

Das Angebot an Software, die mit diesen Daten arbeitet, ist riesig. Die Phalanx der Anbieter reicht von den großen Softwarekonzernen bis hin zu kleinen Start-ups und Open-Source-Projekten wie openLCA.

Ihr gemeinsames Versprechen ist der „Digitale Zwilling“. Der Name verrät schon das Ziel: Mithilfe der Software lassen sich virtuelle Simulationen eines künftigen Produkts unter Berücksichtigung unterschiedlicher Parameter wie eingesetzte Materialien und verschiedene Produktionsverfahren erstellen. Im Idealfall spielen die Produktentwickler verschiedene Materialien und Produktionsszenarien durch und gelangen so zu einem Produkt, das in der ganzheitlichen Nachhaltigkeitsbetrachtung am besten abschneidet.

Der digitale Zwilling führt die Produktentwickler, vor allem in der verarbeitenden Industrie, also zum optimalen Kompromiss zwischen Wirtschaftlichkeit, Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeit eines Produkts.

Die dafür notwendigen Daten sind vorhanden, die digitale Technologie auch. Mit einigen Klicks ist es allerdings nicht getan. „Software kann man kaufen. Aber die Prozesse einschließlich der Input- und Outputströme sowie die entstehenden Nebenprodukte und Abfälle müssen korrekt modelliert und die Resultate auch entsprechend bewertet werden“, weiß Hans-Josef Endres, der in jüngster Zeit an seinem Institut einen dahingehend stark gestiegenen Beratungsbedarf der Unternehmen registriert.

Diese Lücke sieht auch Dr. Hermann Achenbach, Bereichsleiter Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft am Kunststoff-Forschungszentrum SKZ. Er erkennt noch Nachholbedarf bei der „Digital Readyness“ in vielen Unternehmen. „Gute Analyse-Tools sind eine Sache, aber man muss interpretierbare Daten auch aus den Maschinen beim Verarbeiter herausbekommen.“

Die produzierenden Unternehmen stehen folglich vor der Herausforderung, in den digitalen Wandel für eine nachhaltigere Produktion in Personal und Technik zu investieren, ohne damit absehbar Geld verdienen zu können. Das ist vor allem für die Zulieferer ein Problem. „Unsere Kunden erwarten kreislauffähige Produkte, sind aber selten bereit, dafür höhere Preise zu zahlen. Und ein möglicher Imagegewinn zahlt auch nicht bei uns als Zulieferer ein“, fasst der Entwicklungschef eines großen Kunststoff-Verarbeiters zusammen.

Hermann Achenbach, selbst ständig in Kontakt mit Branchenvertretern, bestätigt dieses Dilemma: „Ich glaube, dass wir entlang der Kunststoff-Wertschöpfungskette noch lange keinen von der Nachfrage getriebenen Markt für digitale Innovationen haben werden. Das muss auf absehbare Zeit durch regulatorische Vorgaben vorangetrieben werden.“

 

Erschienen im POLYPROBLEM-Themenreport Der Circularity Code

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