Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Kaum ein Instrument im Kampf gegen globale ökologische Krisen ist so umstritten wie das Prinzip der Kompensation. Allen voran namhafte Umweltverbände wie der WWF geißeln Ausgleichsmaßnahmen als bloßes Greenwashing und als einen Ablasshandel, der die Gesamtsituation eher verschlimmert als verbessert. Anbieter und Nutzer von Kompensationsprojekten hingegen feiern sie als niedrigschwellige Universallösung auf dem Weg aus der Plastikmüllkrise.

Wie so oft liegt die Wahrheit in der Mitte. Kompensation bietet Potenziale und Risiken. Der Markt für entsprechende Projekte ist jung, unorganisiert und intransparent. Das erschwert es allen Teilnehmenden, die Chancen nutzbar zu machen. Aus diesem Grund erscheint es besonders wichtig, die Möglichkeiten und die Grenzen von Kompensation realistisch einzuschätzen und offen zu kommunizieren.

1. NUR EIN ZWISCHENSCHRITT … ABER EIN EINFACHER UND SCHNELLER.

Wenn Unternehmen völlig freiwillig und in beliebigem Umfang dafür bezahlen, dass jemand anderes die von ihnen in Umlauf gebrachten Plastikverpackungen einsammelt und einer Verwertung zuführt, dann ist das noch keine Erweiterte Produzentenverantwortung (EPR). Sie setzt erst dann ein, wenn ein gesetzlich verankertes und somit verpflichtendes System entsteht: Der Inverkehrbringer einer Verpackung zahlt eine Lizenzgebühr, mit der eine Sammel- und Recyclinginfrastruktur finanziert wird.

Es muss glasklar ausgesprochen werden: Plastic Credits ersetzen nicht die Erweiterte Produzentenverantwortung. Schon gar nicht sind sie ein Mittel, sich davon freizukaufen.

Sie können aber durchaus ein Übergangsinstrument in Ländern sein, in denen (noch) keine EPR-Systeme existieren. Denn Kompensationsmaßnahmen über Plastic Credits sind sofort und nahezu überall einsetzbar, gestaltet von vielfach sehr flexiblen und ideenreichen Initiativen und Start-ups. So können Inverkehrbringer, die ihren Fußabdruck ausgleichen wollen, sofort loslegen.

Ihre Niedrigschwelligkeit ist ein klares Plus von Plastic Credits.

2. HÄNDE WEG VON „PROJEKTEN“

Wenn Ausgleichsmaßnahmen als Übergangsszenario hin zu einer Erweiterten Produzentenverantwortung und damit letztlich zu einer Kreislaufwirtschaft dienen sollen, müssen sie zu einer beständigen Infrastruktur beitragen, beispielsweise durch den Aufbau lokaler Sammel- und Recyclingzentren oder die Bildung von Kooperativen bisher unorganisierter Müllarbeiter. Kurz: Was mit Plastic Credits finanziert wird, sollte bleiben. Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht. International finanzieren Plastic Credits nicht selten einmalige Cleanups und andere kurzatmige Aktionen.

3. GLAUBWÜRDIG NUR ALS TEIL EINER STRATEGIE

Plastik-Kompensation erfasst Abfälle, die bereits entstanden sind. Sie leistet also keinen Beitrag zur Abfallvermeidung. Und diese steht bekanntlich an der Spitze der Abfallhierarchie. Für Unternehmensstrategen ist diese Erkenntnis bedeutsam. Ein Unternehmen, das nicht zugleich intensiv und transparent an neuen Technologien und veränderten Geschäftsmodellen arbeitet, um beispielsweise weniger Einwegverpackungen in den Verkehr zu bringen, sollte auch die Finger von Kompensationsmaßnahmen lassen. Es wäre nicht glaubwürdig – und das zu Recht.

Kompensation funktioniert für Unternehmen nur zusätzlich zur Transformation hin zu einem nachhaltigen Geschäft.

Anbieter und Vermittler von Plastic Credits kennen und spüren das Dilemma. Einige von ihnen akzeptieren im Sinne der eigenen Glaubwürdigkeit gar nicht alle Kunden. Das ist klug.

Umgekehrt gilt aber auch:

Wer Plastic Credits in eine Gesamtstrategie einbettet und diese transparent öffentlich kommuniziert, findet damit einen zusätzlichen Hebel zur unmittelbaren und zeitnahen Intervention.

4. NICHT GEGEN DEN STOFFSTROM SCHWIMMEN

Plastik ist nicht gleich Plastik. Und deshalb sollte klar sein, mit welchen Kunststoffen und Verwertungswegen sich eine über Kompensationsmaßnahmen finanzierte Aktivität auseinandersetzt. Existiert in der Zielregion bereits ein relativ gut funktionierender Stoffstrom – beispielsweise für das gut zu recycelnde und deshalb gefragte PET –, wäre es unter Umständen kontraproduktiv, mit durch Kompensation finanzierten Projekten in diesen bereits etablierten Ablauf einzugreifen.

Einige Anbieter und Vermittler von Plastic Credits konzentrieren sich deshalb ganz auf die Sammlung schwer oder nicht recycelbarer Kunststoffabfälle. Diese landen dann in der thermischen Verwertung. Dort sind sie besser aufgehoben als unkontrolliert in der Umwelt, aber ein Beitrag zur Kreislaufwirtschaft entsteht an dieser Stelle (noch) nicht.

Für kompensationswillige potenzielle Käufer von Plastic Credits ist es daher wichtig, bewusst zu planen und genau zu wissen, welche Kunststoffe und Verwertungswege mit der jeweiligen Kompensationsmaßnahme in Angriff genommen werden. Auch die jeweiligen lokalen Gegebenheiten sind zu berücksichtigen. Was in einer Region sinnvoll ist, kann in einer anderen kontraproduktiv wirken.

5. VORSICHT MIT DER NEUTRALITÄT

Immer wieder fällt im Zusammenhang mit Kunststoff-Kompensation der Begriff „Neutralität“. Der Gedanke dahinter: Wer mindestens so viel kompensiert, wie er produziert beziehungsweise in Verkehr bringt, wirtschaftet plastikneutral. Im Zuge der Recherchen zu diesem Report hat sich dieser Begriff als problematisch erwiesen.

Zum einen müsste für eine echte Neutralität auch der historische Fußabdruck ausgeglichen werden, was kaum realistisch erscheint. Zum anderen verteilt sich Plastikmüll nicht – wie etwa ein Treibhausgas – gleichmäßig in der Atmosphäre. Ein in einer bestimmten Region entstandener Umweltschaden kann nicht durch eine Aktivität an anderer Stelle „neutralisiert“ werden.

6. ZUGABE BITTE

Von entscheidender Bedeutung ist das Prinzip der Zusätzlichkeit. Mit Plastic Credits sollten keine Maßnahmen finanziert werden, die in der jeweiligen Zielregion ohnehin bereits stattfinden. Auch dies ist keine Selbstverständlichkeit.

Die hier aufgeführten sechs Punkte fassen lediglich die Kernaspekte im Umgang mit Kompensationsansätzen für Kunststoffabfall zusammen. Sie verdeutlichen, wie viel Klärungsbedarf es noch gibt, bis sich ein allgemein anerkanntes Qualitätsverständnis gebildet hat, das von Anbietern und Vermittlern, Projektumsetzern, Standardisierern und potenziellen Käufern gemeinsam getragen wird.

Dazu gehört auch eine realistische Kommunikation der Potenziale und Grenzen. Umweltverbände weisen zu Recht auf die Gefahr hin, dass Kompensationsmaßnahmen bei Verbrauchern den Eindruck erwecken könnten, durch Plastikmüll-Emissionen eingetretene Umweltschäden seien reparabel. Dass Ausgleichsmaßnahmen niemals Vermeidung und Kreislaufwirtschaft ersetzen können, sollten auch Anbieter und Käufer von Zertifikaten klar herausstellen.

Noch ist freiwillige Kompensation mit Blick auf die Mengenverhältnisse kein relevanter Hebel im Kampf gegen die Plastikmüllkrise. Das lässt sich nach den für diesen Report angestellten Recherchen deutlich sagen. Wenn sie es jemals werden soll, wäre es empfehlenswert, dass sich alle bedeutenden Marktteilnehmer stärker als bisher um gemeinsame Normen bemühen.

Wenn Plastic Credits als ein alternatives Finanzierungsinstrument betrachtet werden, mit dem Unternehmen und Privatpersonen unkompliziert und schnell zum Aufbau von Abfallmanagement- und Recyclinginfrastruktur beitragen können, liegt darin eine Chance. Das hat dann aber keinen zwingenden Zusammenhang mit dem eigenen Plastik-Fußabdruck – geschweige denn mit dessen Ausgleich.