Verantwortung sucht Währung

Der Aufbau von tragfähigen Systemen der Erweiterten Produzentenverantwortung (EPR) (1) steckt in den meisten Ländern des Globalen Südens noch in den Kinderschuhen. Gleichzeitig stellt der weltweit rapide steigende Verbrauch von Kunststoffverpackungen und die anhaltenden, teilweise illegalen Exporte von Kunststoffabfällen aus dem Globalen Norden viele Länder des Globalen Südens vor immer größere Herausforderungen. (2) Trotz des globalen Charakters der Plastikmüllkrise mangelt es an nachhaltigen Finanzierungsmodellen für den Aufbau von ganzheitlichen Abfallverwertungsinfrastrukturen vor Ort. Als Antwort auf genau diese Finanzierungslücke finden sogenannte Plastic Credits immer häufiger Erwähnung.

Der lange Weg zur Kreislaufwirtschaft

Bei der fünften Umweltversammlung der Vereinten Nationen im März 2022 in Nairobi haben 175 Staaten mit einer gemeinsamen Resolution einen historischen Meilenstein im globalen Kampf gegen die Plastikkrise auf den Weg gebracht. Unter Einbeziehung verschiedener Stakeholdergruppen wollen sie bis 2024 ein rechtlich bindendes Abkommen verhandeln und ausarbeiten, um sich somit dem Ziel einer erfolgreichen Kunststoff-Kreislaufwirtschaft zu nähern – vom Produktdesign bis zur abschließenden Materialverwertung. (3) Die Resolution gilt als die erste ihrer Art, welche die Relevanz der Sammel- und Recyclingaktivitäten sogenannter Waste Picker und anderer Akteure aus dem informellen Sektor in Ländern des Globalen Südens ausdrücklich anerkennt. (4)

Es wird erwartet, dass das zukünftige Abkommen wichtige Grundlagen für die Förderung und Umsetzung von Kreislaufwirtschaftssystemen legen, Optionen zur Plastikreduktion präsentieren sowie den Bedarf für internationale Zusammenarbeit unterstreichen wird. (5) Laut Inger Andersen, Direktorin des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP), wäre ein solches Umweltabkommen zu Plastik und Plastikabfall das wichtigste seit dem Klimaschutzabkommen von Paris. (6)

Doch bis dahin bleibt der nachhaltige und sozialverträgliche Umgang mit Plastikabfällen zunächst weiter in der alleinigen Verantwortung nationaler Regierungen. In Deutschland und seinen europäischen Nachbarstaaten bilden entsprechende Systeme der erweiterten Produzentenverantwortung die Grundlage nationaler Entsorgungs- und Recyclingkreisläufe. Durch eine ganzheitliche Umsetzung des Verursacherprinzips bilden EPR-Systeme einen Anreiz zur Vermeidung von Verpackungsabfällen und für ein effizienteres Produktdesign auf Herstellerseite und gewährleisten die finanzielle Tragfähigkeit kommunaler Abfallwirtschaftssysteme. (7)

In Ländern des Globalen Südens können EPR-Systeme darüber hinaus zum Aufbau der notwendigen Entsorgungsinfrastruktur beitragen sowie zu höheren Sammel- und Recyclingraten. Doch die effektive Etablierung solcher Systeme erstreckt sich über einen langen Zeitraum und setzt den notwendigen politischen Willen voraus. Angesichts des allgegenwärtigen Handlungsdrucks braucht es aber schnelle Lösungen. Vor allem in den Regionen, wo EPR-Systeme noch ganz am Anfang stehen, wird händeringend nach alternativen Finanzierungsmöglichkeiten für den Aufbau von Abfallsammlungs- und Recyclinginfrastrukturen gesucht.

Hier kommen immer häufiger Plastic Credits ins Spiel. Wer diese neuartige Währung erzeugt und verkauft, welche Kompensationsleistung dafür erbracht wird – dafür existiert keine übergreifende Definition. (8) (9) Ausdruck hierfür sind unübersichtliche Marktdynamiken und eine fragmentierte Akteurslandschaft, die im klaren Kontrast zum streng regulierten Markt für den CO₂-Zertifikatehandel steht, der im aktuellen Diskurs vielfach als Referenz für den Handel mit Plastic Credits angeführt wird. (10)

Plastic Credits – der Grundgedanke

Plastic Credits werden entweder direkt von Initiativen oder über zwischengeschaltete Plattformen (Makler) an die Verursacher von Plastikabfällen, in der Regel große Konzerne, Hersteller oder Marken aus dem Konsumgüterbereich, verkauft. Aber auch Unternehmen, die selbst keinen Kunststoff in Verkehr bringen, und Privatpersonen wollen mit dem Kauf von Plastic Credits einen Beitrag leisten.

Die Summe, die die Käufer für Plastic Credits bezahlen, fließt als Rückfinanzierung in Organisationen, die davon lokale Sammlungen und die Verwertung von Plastikabfällen organisieren, in der Regel in Regionen des Globalen Südens.

Die Vermittlung von Plastic Credits zwischen den lokalen Sammelorganisationen als Hersteller beziehungsweise Verkäufer von Plastic Credits auf der einen Seite und Käufern auf der anderen Seite basiert dabei idealerweise auf unabhängigen Standards oder Richtlinien. Es haben sich verschiedene Organisationen etabliert, die solche Qualitätsvorgaben erarbeitet haben. Nennen wir diese Akteure „Standardisierer“. Mit ihren Kriterien legen sie fest, was ein lokales Sammel- oder Verwertungsprojekt erfüllen muss, um Credits als Kompensationswährung an Unternehmen oder Privatleute zum Verkauf anbieten zu können. Externe Kontrollstellen, sogenannte Zertifizierer, überprüfen und zertifizieren die Einhaltung der Standard-Vorgaben vor Ort.

So weit der Grundgedanke. Gegenwärtig verlaufen die Rollen, Verantwortlichkeiten und Geschäftsaktivitäten der unterschiedlichen Akteure im globalen Plastic-Credit-Markt jedoch selten so trennscharf.

Viel Potenzial, wenig Verbindlichkeit

Von international verbindlichen Richtlinien zum Handel mit Plastic Credits wie bei den häufig zum Vergleich herangezogenen CO₂-Kompensationsmodellen ist die Entwicklung noch weit entfernt. Begründet liegt dieser Umstand auch darin, dass es sich bei Kunststoffen um wesentlich komplexere und vielfältigere Materialien handelt als bei Treibhausgasen. Umso weniger überraschend ist es deshalb, dass die sieben wichtigsten definierten Standards alle freiwilliger Natur sind. (11)

Zusätzlich fehlt es dem globalen Plastic-Credit-Markt bisher oftmals noch an akkreditierten Zertifizierungsprogrammen. Den Zertifizierern mangelt es wiederum an global einheitlichen Richtlinien. Das hieraus hervorgehende Multiversum an Zertifizierungen, Kriterien und zertifizierten Plastic-Credit-Projekten vermag entsprechend wenig für Durchblick zu sorgen. Zudem herrscht nicht nur Unklarheit darüber, in welcher Beziehung die Vielzahl an Maklern als Verkäufer zu den lokalen Sammelorganisationen stehen, sondern auch um wen es sich konkret bei den Plastic-Credit-Käufern handelt.

Obwohl Plastic Credits im Nachhaltigkeitsdiskurs eine zunehmend wichtige Rolle spielen und sich eine Vielzahl an Unternehmen und Marken aus der Konsumgüterindustrie mit dem Konzept beschäftigen, hüllen sich viele von ihnen weiterhin in Schweigen, was konkrete Aktivitäten angeht. Für Außenstehende, und somit für Kunden und Verbraucher, ist selten ersichtlich, welche Unternehmen bisher in welchem Umfang Plastic Credits gekauft haben und unter Berücksichtigung welcher Kriterien dies geschehen ist. Ausgleichsmaßnahmen für Kunststoffe sind noch nicht Teil der Nachhaltigkeitsberichterstattung.

Erschienen im POLYPROBLEM-Themenreport Kauf Dich frei

 

Fußnoten

(1) Kurzform der englischen Version von Extended Producer Responsibility (EPR), zu Deutsch: Systeme der erweiterten Herstellerverantwortung

(2) Heinrich-Böll-Stiftung (2019); The Guardian (2021)

(3) UNEP (2022) (2)

(4) UNEP (2022) (2)

(5) UNEP (2022) (1)

(6) Inger Andersen via Twitter am 02. März 2022

(7) PREVENT Waste Alliance (2020)

(8) Phipps (2021)

(9) The Circulate Initiative (2021)

(10) Ebd.

(11) Die vier Akteure hinter diesen sieben Standards sind: Verra, Circular Action Hub und Plastic Exchange mit jeweils einem freiwilligen Standard sowie Zero Plastic Oceans mit vier separaten freiwilligen Standards. (Stand Juni 2022)

 

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