Wie sich Datenlücken mit digitalen Tools schließen lassen

Welche Menge an Plastikabfällen befindet sich in der Umwelt und unseren Weltmeeren? Wo und wann wurden die Abfälle eingetragen? In welchen Regionen ballen sie sich besonders stark, und unter welchen Wetter- und Umweltbedingungen verteilen sie sich wie weiter? Antworten auf diese Fragen könnten maßgeblich dazu beitragen, die Ursprünge und ökologischen Folgen der Plastikkrise besser zu verstehen und möglicherweise sogar einzudämmen. Bislang klafft jedoch an dieser Stelle noch eine große Datenlücke, ganz zu schweigen von internationalen Monitoringstandards, die angesichts des globalen Ausmaßes der Krise eigentlich zwingend erforderlich wären. (1)

Der Einsatz digitaler Technologien im Rahmen lokaler Probennahme- und Sammelaktionen (z. B. Beach Cleanups), visueller Erfassungen (z. B. an Bord eines Fischerbootes) und Fernerkundung (z. B. durch Drohnen oder Flugzeuge) birgt dabei ein großes Potenzial, um das Ausmaß von Verschmutzung besser zu kartieren und zu quantifizieren, die Zusammensetzung von Abfällen zu bestimmen und ihre Verbreitungswege zu überwachen oder gar vorherzusagen. Voraussetzung: Viele Menschen müssen mitmachen beim Datensammeln.

Wenn aus Clean-up Citizen Science wird

Globale Statistiken über Meeresmüll zu erstellen und der Wissenschaft frei zugänglich zu machen – mit diesem Ziel ist die bekannte US-amerikanische Umweltingenieurin Jenna Jambeck 2010 bei der Entwicklung der Marine Debris Tracker-App angetreten. Auf Grundlage der über die App gesammelten Daten konnte Jambeck 2015 die vielfach zitierte Schätzung aufstellen, dass jedes Jahr mehr als acht Millionen Plastikteile ins Meer gelangen. (2) Über die App wurden weltweit bereits knapp 7,5 Millionen Abfallstücke (Stand Juli 2023) gesammelt und dokumentiert (3) bei einer weltweiten Nutzerzahl von rund 10.000 Citizen Scientists (Stand 2021) (4).

Die App listet eine Vielzahl von Kooperationspartnern aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Bildung auf, für die je nach Forschungsanliegen individuelle Abfall- und -materiallisten aufgeführt sind. Wählen App-Nutzer dann eine Liste aus, können sie die gesammelten Abfallgegenstände eintragen, wobei allerdings nicht zwingend ein Foto als Beleg notwendig ist. Um dem wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden, bietet die App zusätzliche Funktionen an zur Sicherstellung der GPS-Genauigkeit für die Lokalisierung von Abfällen und zur Dokumentation der Wegstrecke, die bei der Sammlung abgelaufen wird. Diese Funktion soll in der Analyse darüber Aufschluss geben, wo und an welchen Stellen keine Abfallvorkommen aufgetreten sind. Im Anschluss werden die Daten dann direkt an die Online Datenbank übermittelt, die von überall auf der Welt abgerufen und heruntergeladen werden kann. (5)

2015 ins Leben gerufen, verfolgt die ebenfalls US-amerikanische und inzwischen in 135 Ländern genutzte Litterati-App ein ähnliches Ziel: verstehen, weshalb in bestimmten Straßen, Parks oder Nachbarschaften besonders viel oder wenig Müll in der Umwelt liegt, um mit Städten, gastronomischen Einrichtungen oder Marken Lösungen für lokale Müllprobleme zu entwickeln. So konnte auf Grundlage gesammelter Daten mit der App, über die bereits 19 Millionen Abfallstücke registriert wurden (Stand Juli 2023), unter anderem in San Francisco erfolgreich eine Zigarettensteuer eingeführt werden.

Dafür haben App-Nutzer mehr als 5.000 Zigarettenstummel gesammelt und dokumentiert, nachdem eine erste Steuereinführung an einer Klage großer Tabakkonzerne zunächst gescheitert war. Dank der aufgenommenen Fotos und Dokumentation des Sammelzeitpunkts, der Lokalisierung und Marke der Stummel konnte die Dringlichkeit für die Steuereinführung belegt werden und vor Gericht am Ende standhalten. (6)

Neben dem Tracking von Abfällen bietet die App zudem Einblicke über die Menge weltweit gesammelter Abfälle durch die Litterati-Community und die Möglichkeit an, Sammelwettbewerbe unter den App-Nutzern zu organisieren oder sich an Forschungsaufträgen zu beteiligen. (7) Wie bei der Marine Debris Tracker-App gewährleistet Litterati ebenfalls freien Zugriff auf die Daten zu den gesammelten Abfalldaten, die monatlich aktualisiert und immer nur für ein Kalenderjahr eingesehen werden können. (8) Ein auf Städte zugeschnittenes Analyseprodukt im Rahmen des sogenannten City Fingerprint Projects soll zudem Entscheidungsträgern Rückschlüsse auf Abfallkonzentrationsgebiete, wie beispielsweise in Shoppingmeilen oder illegalen Mülldeponien, erlauben und somit die datenwissenschaftliche Grundlage zur Ableitung von effektiven Maßnahmen zur Abfallbekämpfung bieten. Für dieses Produkt kommt künstliche Intelligenz für die Auswertung der über die App gesammelten Bilddokumentationen zum Einsatz. (9)

Einen zusätzlichen Fokus setzt das in London ansässige Sozialunternehmen Unwaste.io Ltd. Es hat sich zur Aufgabe gemacht, mit Kooperationspartnern in Kongo, Kenia, Malawi, Mosambik, Tansania, Uganda und Sambia valide und robuste Daten über in der Umwelt aufgefundene Kunststoffflaschen zu sammeln und die dazugehörigen Marken zu dokumentieren. Hierfür erhalten die lokalen Partnerorganisationen ein entsprechendes Training, um im Zuge ihrer Aufklärungsarbeit und Clean-up-Aktionen zur Datensammlung und -verarbeitung sowie der Durchführung von Hintergrundrecherchen zu Produktdaten von Marken, Herstellern und Händlern beizutragen. (10)

Die Grundlage hierfür bildet eine App, über die die Barcodes von Plastikflaschen gescannt und die entsprechenden Informationen hinterlegt werden: unter anderem Marke, Produktname, Gewicht, Hersteller. Auf die Daten kann frei über die Wastebase DATA-Plattform zugegriffen werden, wo entlang von Herstellern und Marken gefiltert und beispielsweise Abfall-Hotspots eingesehen werden können. (11) Zudem geben monatliche Berichte Auskunft über die Top-5-Flaschenmarken, von denen die meisten aus der Umwelt in den Regionen der Kooperationspartner gesammelt wurden. (12)

Der Ansatz von Unwaste.io ist vielversprechend, weil die Datenbank lokalen Umweltaktivisten und NGOs solide Beweise liefert, um damit direkten Druck auf bestimmte Marken, die Industrie und Politik auszuüben und die Ableitung von Lösungsansätzen oder die wirksame Umsetzung von EPR-Maßnahmen einzufordern. (13) In diesem Zusammenhang scheint eine Ausweitung von PET-Flaschen auch auf andere Verpackungsformen sinnvoll zu sein.

 

Erschienen im POLYPROBLEM-Themenreport Der Circularity Code

 

Fußnoten

(1) Interviewaussagen Tilman Floehr, everwave; Mattis Wolf, dfki; Steffen Blume und Ellen Gunsilius, GIZ; Vgl. Ostrowski
(2021)

(2) Ellen MacArthur Foundation (2022) (2)

(3) Marine Debris Tracker (o. J.) (1)

(4) Marine Debris Tracker (2021)

(5) Marine Debris Tracker (2020)

(6) TED (2017)

(7) Litterati (o. J.) (1)

(8) Litterati (o. J.) (2)

(9) Litterati (o. J.) (3)

(10) Unwaste.io (o. J.) (1)

(11) Wastebase (o. J.)

(12) Wastebase (2023)

(13) Unwaste (2021)

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