Auf dem Weg zum Dualen System des Südens

In den Projekten zur Beseitigung und Vermeidung von Umweltschäden durch Plastikmüll spiegelt sich die wahrnehmbare Wirkung der Plastic Credits wider: Kunststoffabfall wird, sofern die angebotene Lösung funktioniert, aus der Umwelt entnommen. Und zur Finanzierung dieser sehr vielfältigen Aktivitäten hoffen immer mehr Initiativen auf den Wunsch von Unternehmen und Privatpersonen, einen Beitrag über Kompensation zu leisten. Sprich: Sie setzen auf Plastic Credits.

Zugleich besteht auch unter den Projektbetreibern weitgehende Einigkeit darin, dass Plastic Credits auf lange Sicht keinen umfassenden Finanzierungsmechanismus für ein belastbares Abfallwirtschafts- und Recyclingsystem darstellen.

Plastik-Kompensation über Credits gilt auch unter den meisten ihrer Anbieter als eine Form der Überbrückungsfinanzierung und nicht zuletzt als ein Instrument, um weiter gegen das globale ökologische Problem der Plastikvermüllung zu mobilisieren. Der Großteil der Projektanbieter ist in Ländern in (Südost-)Asien sowie in den Küstenregionen Afrikas angesiedelt, wo beträchtliche Mengen Plastikmüll in die Ozeane (1) gelangen.

Retter in der Pandemie

Wie in fast allen Bereichen der Wirtschaft brachten die Folgen der COVID-19 Pandemie auch für die Projektanbieter extreme Herausforderungen – aber auch neue Chancen – mit sich. Dr. Tilman Floehr, Technikchef und Mitgründer der deutschen Organisation everwave, berichtet von Einschränkungen bei der Expansion in neue Projektgebiete über Europa hinaus.

Für andere Organisationen, die bereits etablierte Abfallsammelstellen in Entwicklungs- und Schwellenländern betreiben, lag das Hauptproblem in erster Linie bei den strengen Lockdowns in weiten Teilen der Welt, die die Arbeit des informellen Sektors stark erschwerten. „Die Situation war extrem schwierig für viele Abfallunternehmen, da wir hauptsächlich auf die Arbeit unabhängiger Müllsammler aus dem informellen Sektor angewiesen sind“, schildert Prince Agbata, Geschäftsführer eines Sammel- und Recyclingunternehmens in Ghana. „Der Großteil von ihnen besitzt keine staatlichen Ausweisdokumente, was es oft unmöglich machte, nachzuweisen, dass sie der systemrelevanten Infrastruktur angehörten.“ Die Folge seien vielerorts große Mengen Plastikmülls gewesen, der nicht gesammelt und verwertet werden konnte. Neben den organisatorischen Schwierigkeiten wurde die Situation auch durch ökonomische Faktoren wie starke Einbrüche der Preise für gesammeltes Material verschärft.

In dieser Situation zeigten sich die Vorzüge der Plastic Credits. Der Einstieg in das Geschäft mit der Plastik-Kompensation hat viele Projekte während der schwierigen wirtschaftlichen Situation, speziell in der Anfangsphase der Pandemie, finanziell über Wasser gehalten. Trotz sinkender Einnahmen war es den Projekten durch die zusätzlichen Gelder durch Plastic Credits auch möglich, die Zahlungen an Abfallsammler auf gleichem Niveau weiterzuführen und teilweise sogar Vorauszahlungen zu leisten. (2) Darüber hinaus konnten Abfallsammlerfamilien durch Hilfsprogramme mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten während der ökonomisch ungewissen Zeit unterstützt werden.

Generell sehen Projektbetreiber die Zuverlässigkeit und die langfristigen Planungsmöglichkeiten durch Plastic Credits als bedeutende Vorteile. Sie helfen dabei, transparenter zu agieren, den Erwartungen ihrer Kooperationspartner gerecht zu werden und damit Vertrauen aufzubauen. (3)

Bürokratie-Kulturschock

Auch wenn das Geschäftsmodell der Plastic Credits den oftmals chronisch unterfinanzierten Sammel- und Recyclingorganisationen neue Finanzierungsmöglichkeiten bietet – und damit einhergehend mehr unternehmerische Sicherheit sowie Möglichkeiten für neue Investitionen (4) –, bringt das Konzept auch eine Hürde mit sich, die kleine wie große Projekte vor eine große Herausforderung stellt: die hohen Ansprüche an Dokumentation und Transparenz.

In den Gesprächen mit den Projektanbietern wird deutlich, dass hier zwei Welten aufeinandertreffen. Standardisierer, Makler-Plattformen und große Unternehmen fordern detaillierte Aufzeichnungen der Verwertungskette des Plastiks vom Sammelort bis hin zur Herstellung und dem Verkauf des Rezyklats. Mehrere Gesprächspartner machen deutlich, dass eine große Herausforderung vor allem darin besteht, die Brücke zwischen der formellen Art der Dokumentationsanforderungen und der informellen Art der Projektaktivitäten zu schlagen.

Viele der Abfallsammler besitzen beispielsweise keine Smartphones, um den Weg des Plastiks per QR-Codes zu dokumentieren. Gerade in Ländern, in denen die Gesetzgebung und Vorschriften bisher nicht die Standards nach westlichen Erwartungshaltungen erfüllen, stellt das Organisationen vor Hindernisse und hält Unternehmen von der Arbeit mit Plastic Credits als Finanzierungsinstrument ab. „Ich glaube nicht, dass es viele weitere potenzielle Projekte in unserem Umfeld gibt, die Zeit und Geduld haben, sich den Kontrollprozessen zu unterziehen – oder die es sich überhaupt leisten können“, bemerkt Agbata.

Das Problem ist auch anderen Akteuren nicht unbekannt. Loek Verwijst von Control Union ist sich bewusst: „Jemand, der in Westeuropa den Standard schreibt, hat nicht unbedingt eine Vorstellung davon, wie die Betriebsprozesse beispielsweise in Indonesien ablaufen.“ In mehreren Gesprächen wurde auch deutlich, dass der hohe zusätzliche Zeitaufwand Projektleiter regelmäßig überlegen lässt, ob die Vereinbarungen mit Maklern weiterhin aufrechterhalten werden sollten oder ob ein Ausstieg aus dem Plastic-Credit-Markt nicht die finanziell sinnvollere Entscheidung darstellen würde. (5)

Andererseits sind die Vorgaben, die für den Verkauf von Plastic Credits erfüllt sein müssen, auch für die Projekte selbst von Vorteil. Sie helfen, neue Systeme und Strukturen aufzubauen, wo es vorher keine gab. „Wir haben jetzt offizielle Vorschriften zu Themen wie Kinderarbeit oder sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Das gibt Kunden eine Sicherheit, aber hilft vor allem auch uns selbst, unseren Umgang mit diesen Problemen zu formalisieren und zu vereinheitlichen“, sagt Prince Agbata.

Nicht alle Projekte können durch externe Standards zertifiziert werden. Projekte mit begrenzten Laufzeiten von nur wenigen Wochen lassen beispielsweise kaum eine Zertifizierung zu. Die deutsche Organisation everwave, vormals bekannt als Pacific Garbage Screening, arbeitet zur Nutzung der Dokumentationssoftware mit dem deutschen Start-up CleanHub zusammen, das eine Handelsplattform für Plastic Credits aufgebaut hat. In deren System gibt es bisher keine externe Zertifizierung für einen bestimmten Standard, jedoch steht man auch hier im Austausch miteinander (6). Stattdessen werden eigene Vorgaben erarbeitet und implementiert, die jedoch ähnliche Faktoren einschließen, wie „faire Löhne, keine Kinderarbeit oder die Motivation, Menschen vor Ort eine Arbeit zu geben, die normalerweise keine guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten“, berichtet Dr. Tilman Floehr, Technikchef bei everwave.

Erschienen im POLYPROBLEM-Themenreport Kauf Dich frei

 

Fußnoten

(1) Statista (2018)

(2) Interviewaussage Prince Agbata, Geschäftsführer eines Sammel- und Recyclingunternehmens in Ghana

(3) Interviewaussage Sahithi Snigdha Bhupathiraju, Waste Ventures India (WVI)

(4) Ebd.

(5) Interviewaussage Prince Agbata

(6) Interviewaussage Joel Tasche, CleanHub

 

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