Der Mehrwert für Mehrweg

An der SB-Salatbar im Supermarkt, im Coffeeshop am Bahnhof, im Schnellrestaurant, an der Imbissbude oder beim Pizza-Service: Einwegverpackungen für Speisen und Getränke zum Mitnehmen sind Normalität. Fast 800 Tonnen Müll aus Einwegverpackungen produziert der Take-away-Sektor in Deutschland. Täglich. Und daran hat die zum Jahresbeginn 2023 gesetzlich verordnete Mehrweg-Angebotspflicht nichts geändert. Junge Anbieter von Mehrwegsystemen wollen die Wende von der Einweg- zur Mehrweg-Kultur schaffen. Sie setzen dabei auf digitale Lösungen.

Sie heißen Recup, Relevo oder Vytal, um nur die derzeit bekanntesten zu nennen. Alle eint die Grundidee: Gastronomen sollen nicht gezwungen sein, jeweils eigenes Geschirr für den Außer-Haus-Gebrauch anzuschaffen und eine eigene Rücknahme- und Spüllogistik aufzubauen. Die Mehrweg-Systemanbieter beliefern die Gastronomie mit Behältern für Speisen und Getränke und sorgen für die Reinigung und für Nachschub.

Entscheidend ist ein möglichst großes Netz an Partnerbetrieben. Nur damit ist gewährleistet, dass Verbraucher die Behälter nicht bloß an der jeweiligen Ausgabestelle zurückgeben können, sondern bei jedem Betrieb, der an das jeweilige Mehrwegsystem angeschlossen ist. Recup (1) verfügt nach eigenen Angaben über mehr als 21.000 Ausgabestellen.

Rein analog sind solche komplexen Systeme kaum zu betreiben. Die Mehrweg-Wende verläuft digital. Alle Anbieter setzen digitale Technologien ein – wenn auch in unterschiedlichem Maß.

Besonders stark positioniert sich Vytal (2) mit Hauptsitz in Köln als digitales System. „Der wichtigste Grund, weshalb wir konsequent auf eine digitale Lösung setzen, besteht darin, dass wir auf diese Weise auf ein herkömmliches Pfandsystem verzichten können“, erklärt Mitgründer und Geschäftsführer Dr. Fabian Barthel. Ein analoges Pfand für die Mehrwegbehälter sei für Kunden eine psychologische Hürde. Liege es niedrig, gebe es keinen Anreiz, die Behälter schnell zurückzugeben. Liege es hoch, sei es den Leuten zu teuer, meint Barthel.

Dass Vytal nach eigenen Angaben eine Rücklaufquote von mehr als 99 Prozent verzeichnet, führt Barthel auf die komplett digitale Ausrichtung zurück. Jeder Behälter sei mit einem QR-Code individuell gekennzeichnet. Nutzer registrieren sich einmalig in der unternehmenseigenen App. So weiß Vytal immer, wo sich welcher Behälter gerade befindet. Und Verbraucher können in der App sehen, wie viel Einwegplastik sie schon durch die Mehrweg-Nutzung eingespart haben.

Aus Sicht der Stiftung Refrastructure (3) genügen eine Handvoll erfolgreicher Mehrweg-Systeme nicht, um Mehrweg im To-go-Bereich zur neuen Normalität zu machen. Sie möchte eine anbieterübergreifende Dateninfrastruktur etablieren, die es ermöglicht, dass Nutzer die verwendeten Behältnisse „überall“ zurückgeben können – also an Rückgabeautomaten und Rückgabestellen im öffentlichen und privaten Raum. „Return anywhere“ lautet das Zauberwort.

„Wir betrachten eine künftige Mehrweg-Infrastruktur als ein gesellschaftliches Gemeingut“, erläutert Refastructure-Geschäftsführer Markus Urff. Den Wettbewerb der Anbieter möchte Urff dabei keineswegs ausschalten, sondern durch die gemeinsame digitale Infrastruktur auf ein höheres Level bringen. „BMW, Mercedes und VW haben keine eigenen Straßeninfrastruktur gebaut, sondern fahren alle gemeinsam auf öffentlichen Straßen. Gerade weil diese öffentliche Infrastruktur vorhanden ist, werden mehr Autos nachgefragt. Gleichzeitig ermöglicht die Infrastruktur eine Intensivierung des Wettbewerbs zwischen den Anbietern. Bei der digitalen Mehrweginfrastruktur handelt es sich letzten Endes um eine digitale Datenautobahn“, zieht er einen Vergleich. Ihm und seinen Mitstreitern geht es um nicht weniger als die Frage, welche Form der Plattform-Ökonomie in Zukunft trägt. Würden alle Anbieter auf einen gemeinsamen digitalen Standard zurückgreifen, ließe sich die Logistik – vom Transport bis zum Spülen – wesentlich effizienter und kostensparender organisieren, glaubt man bei Refrastructure.

Mit dieser Haltung ist die gemeinnützige Organisation nicht allein. In mehreren lokalen Pilotprojekten, unter anderem in München-Haar, sind Tests angelaufen. Mit dabei: die Systemanbieter Recup, Relevo und ReCIRCLE.

„Ich halte ein solches gemeinsames System für nicht notwendig“, meint hingegen Vytal-Chef Fabian Barthel. Er hält es zudem für unrealistisch, dass es Gastronomen zuzumuten ist, Behälter unterschiedlicher Systeme zurückzunehmen – ganz unabhängig von der Möglichkeit einer digitalen Abwicklung. Barthel schwebt stattdessen ein weitgehend flächendeckendes Netz von Rückgabeautomaten im öffentlichen Raum vor, die Behälter unterschiedlicher Anbieter entgegennehmen und die jeweiligen Container-IDs erkennen können. Dazu brauche es durchaus Schnittstellen zwischen den Systemen, aber eben keine gemeinsame Daten-Plattform. „Wir müssen die Ausgabe und die Rücknahme entkoppeln“, ist Barthel überzeugt. Auch dazu sind Pilotprojekte in Berlin und München bereits gestartet.

Einmal mehr geht es hier also um mehr als eine technologische Frage. Ist die Digitalisierung eine Chance für eine neue Form der Gemeinwohlökonomie oder eine Möglichkeit, sich im Wettbewerb zu differenzieren?

Ein Problem haben beide Glaubensrichtungen gemeinsam: das Geld. Weder für eine gemeinnützige digitale Infrastruktur noch für ein Netz von Rücknahmestationen im öffentlichen Raum und die dahinter liegende Logistik existiert ein tragfähiges Geschäftsmodell. Niemand verdient mit der Rücknahme. Sie verursacht nur Kosten. Wer soll den zusätzlichen Aufwand bezahlen, solange Einweggeschirr billig zu haben ist?

Die Politik muss also einen Schritt weiter gehen, wenn sie ihre Mehrweg-Angebotspflicht (4) mit Leben füllen will. Darin sind sich die unterschiedlichen Akteure in dem jungen Markt weitgehend einig. Eine Lösung wäre eine deutlich spürbare Einweg-Steuer (5), aus deren Ertrag die Rücknahme- und Spüllogistik für Mehrweg Lösungen subventioniert werden könnte.

So scheint auch die digitale Mehrweg-Wende eine Gemeinschaftsaufgabe zu sein zwischen den digitalen Pionieren der jungen Wirtschaft, den etablierten Größen im To-go-Markt und einer Politik, die nicht bloß Gesetze erlässt, sondern auch die Bedingungen für deren Umsetzung schafft. Genau das macht die Sache kompliziert.

 

Erschienen im POLYPROBLEM-Themenreport Der Circularity Code

 

Fußnoten

(1) Recup (2023)

(2) Vytal (2023)

(3) Refrastructure (2023)

(4) Umweltbundesamt (2023)

(5) Presseportal (2023)

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